Menschen mit Wärme, Ruhe und Zeit aus der Schockstarre holen: Notfallseelsorgerin Conni Kiel über ihre Einsätze in der Krisenintervention

02.04.2024

Notfallseelsorgerin mit dem Inhalt ihres Einsatzrucksacks

 

Wenn nach plötzlichem Kindstod, Suizid, schweren Unfällen, Gewaltverbrechen oder anderen Katastrophen die Welt der Angehörigen von einer Sekunde auf die andere aus den Fugen gerät, sind sie da: die Ehrenamtlichen der Notfallseelsorge und Krisenintervention, die seit mehr als 20 Jahren im Landkreis „Erste Hilfe für die Seele“ leisten. Eine aus dem 25-köpfigen Team ist Conni Kiel. Im Interview erzählt sie davon, was Menschen in Extremsituationen hilft, dass es in ihrem Dienst auch schöne Momente gibt und wie sie sich trotz all der Begegnung mit schlimmem Leid eine so wohltuende, lebensbejahende Ausstrahlung bewahrt.

Diakonie Leipziger Land: Frau Kiel, als Krankenschwester auf einer Intensiv-Station erleben Sie sicher schon im Beruf viele menschliche Dramen. Was hat Sie dazu bewogen, sich daneben in einem ähnlich herausfordernden Ehrenamt zu engagieren?

Conni Kiel: Es stimmt, mit Krisen habe ich tagtäglich auf Arbeit zu tun. Wenn aber hier zum Beispiel ein Kind nach einem Fenstersturz operiert wird und die Eltern in größter Sorge in der Klinik warten, ist wenig Zeit für Zuwendung oder Trost. Draußen in meinem Ehrenamt ist das komplett anders: Hier geht es nicht ums Geld-Verdienen, sondern darum, einfach etwas Gutes zu tun. Ich kann menschliche Wärme und viel Zeit der einen Person schenken, die gerade die heftigste Krise ihres Lebens durchmachen muss, und ohne die Notfallseelsorge vielleicht allein wäre. Das ist ein großer Schatz, der mit Geld nicht aufgewogen werden kann.

Pro Jahr sind Sie ungefähr vier bis sechs Mal im Einsatz, relativ häufig nach Suizid oder erfolgloser Reanimation, auch ein Wohnungsbrand, bei dem ein Junge praktisch seine komplette Familie verloren hat, gehörte dazu. Wie läuft Ihr Dienst ganz praktisch ab?

Der erste Satz ist entscheidend. Ich stelle mich vor und sage: Ich bin hier und habe Zeit für Sie. In all den Jahren hat mich noch nie jemand abgewiesen. Wenn Angehörige erstmal nur weinen und gar nichts sagen, kann ich das gut aushalten. Viele sind verzweifelt und fragen, was sie tun sollen. Meine Antwort: erstmal nur ein- und ausatmen, nichts weiter. Ich bin ruhig, aber da – das hilft oft schon sehr – reiche ein Taschentuch und frage vielleicht, ob sie etwas trinken möchten, ob ich eine Decke oder irgendetwas anderes holen soll. Manchmal gehen sie dann in die Küche, kochen Kaffee und kommen so schon mal raus aus ihrer Starre. Wenn nach einer Weile der erste Schock überwunden ist, vielleicht die Freundin eintrifft und über Nacht bleibt, wenn die Person weiß, wo sie weitere Hilfe findet, kann ich mit gutem Gefühl wieder gehen. Ab und zu sind wir danach auch noch für die Einsatzkräfte da, wenn sie die schlimmen Bilder zu sehr belasten.

Was befindet sich alles in Ihrem Einsatz-Rucksack?

Er hat viele Taschen, zum Beispiel für Flyer und Infoblätter, einen großen und kleinen Teddy sowie Buntstifte und Malblock, falls Kinder involviert sind. Auch eine Kerze, eine Bibel, ein Büchlein mit Psalmen, Wasserflasche, Taschenlampe und Thermoskanne gehören dazu – denn etwas Warmes tut gut. Ganz wichtig sind die Taschentücher.

Viele sagen, dass sie so etwas nicht könnten. Was gibt Ihnen die Kraft, bewusst in solche Situationen zu gehen?

Ohne eine gewisse Belastbarkeit und Lebenserfahrung geht es wohl nicht. Für innere Ruhe und Ausgleich brauche ich außerdem meine Hobbys und viel Sport. Wichtig ist auch, eine gewisse Distanz zu wahren und trotzdem Mitgefühl zu zeigen. Einmal hat mir eine alte Dame nach dem Tod ihres Mannes – beide waren über 80 – von ihrem erfüllten Leben erzählt und Fotos gezeigt. Das sind dann nicht nur traurige, sondern trotz allem auch schöne und sehr berührende Momente.

Was gibt Ihnen Ihr Einsatz?

Die Notfallseelsorge tut auch mir selbst gut. Sie erfüllt mich mit Sinn, erdet mich total, schenkt mir Ruhe und Zufriedenheit. Überall wird so viel gejammert: dass die Bahn wieder streikt, die Benzinpreise steigen oder der Urlaub gestrichen ist. Ich denke mir dann manchmal: Das sind doch nicht wirklich Krisen. Ich habe mir auch abgewöhnt, mich über unfreundliche Menschen zu ärgern.

Wie halten Sie es aus, immer wieder mit dem Sterben konfrontiert zu werden?

Ich habe keine Angst vor dem Tod, er ist praktisch immer einen Schritt neben uns. Vieles haben wir nicht in der Hand. Deshalb lebe ich jeden Tag sehr intensiv: den Hund kraulen, Wald riechen, in der Gartenerde buddeln, aus der eigenen Ernte etwas Leckeres kochen und dann essen, das Meer rauschen hören und die gute, salzige Luft einatmen – ich habe mir angewöhnt, all das ganz bewusst zu genießen. Glück hängt nicht an einem tollen Auto oder am Geld, auch Gesundheit ist gar nicht mal das Wichtigste. Glück kommt aus einem vollen Herzen.