„Im Kern geht es darum, was uns Pflege mit Würde wert ist“: Interview Kathrin Beyer, Fachbereichsleiterin Altenhilfe
Fast 600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die an einem durchschnittlichen Werktag über 900 Menschen betreuen, pflegen und begleiten – die Altenhilfe ist der größte Fachbereich im Verbund der Diakonie Leipziger Land. Leiterin Kathrin Beyer ist ganz nah dran an dessen Herausforderungen und Lichtblicken, Schönem und Schwerem. Zum Tag der Pflege sprachen wir mit ihr über die Facetten eines systemrelevanten 24/7-Jobs, wie man vermeiden könnte, das Menschen im Alter zu Bittstellern werden und worüber sie von Herzen dankbar ist.
Diakonie Leipziger Land: Sie haben als Christin neben der Bibel auch eine für die Pflege im Regal stehen. Was ist Letzteres für ein Buch?
Kathrin Beyer: Es handelt sich um ein Werk, auch „Juchli“ genannt – das Pflegelehrbuch von Liliane Juchli, einer Ordensschwester und Wegbereiterin der Pflegewissenschaft. Ich habe sie selbst noch erlebt und sie prägt meine Sicht auf die Pflege bis heute. 2020 ist sie im Alter von 87 Jahren verstorben, aber alle in der Branche orientieren sich an ihrer Pflege-„Bibel“. An erster Stelle steht bei Liliane Juchli immer die Würde des Menschen.

Was bedeutet das ganz praktisch für die Arbeit im Alltag heute?
Die Diakonie macht als Arbeitgeberin vieles möglich, zum Beispiel „Mutti-Schichten“, aber Pflege und Begleitung bedeuten letztlich, rund um die Uhr, also 24/7/365, für die Menschen da zu sein, die Hilfe brauchen. Auf diesen Spagat müssen sich beide Seiten einlassen und die Bedürfnisse der uns Anvertrauten sollten immer im Fokus stehen. Deshalb ist Pflege mehr als ein Broterwerb. Es geht um Herzlichkeit und Liebe, um Geben und Nehmen.
Man gibt viel, aber bekommt auch viel zurück. Was spricht noch für einen Job in der Pflege?
Der Beruf ist schön und hart zugleich. Es gibt so viele Facetten und Entwicklungsmöglichkeiten wie in kaum einem anderen Bereich. Man kann mit Hauptschulabschluss beginnen oder dem Abitur und ist eigentlich nie zu alt für die Pflege, denn es gibt eine Menge an Einsatzmöglichkeiten, wenngleich die Anzahl an „Bürostühlen“ natürlich begrenzt ist. Als konfessioneller Träger zahlen wir zudem eine gute und sichere Vergütung. Darauf sind wir stolz. Die Finanzierung des Systems muss allerdings dringend reformiert werden.
Wo drückt hier der Schuh am meisten?
Die Kosten in den Altenpflegeheimen werden zum Großteil durch die Bewohnerinnen und Bewohner getragen. Ich plädiere hier stark für skandinavische Modelle, bei denen verkürzt gesagt alle in die Pflegeversicherung einzahlen, die Grundversorgung tatsächlich gesichert ist und der Rest aus Steuermitteln zuschossen wird. Versteckt finanziert der Staat bei uns die Pflege ja auch jetzt schon mit, weil immer mehr alte Menschen auf Sozialhilfe angewiesen sind. Dadurch werden sie allerdings zu Bittstellern im System.
Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass bei uns noch niemand Schritte in die Richtung unternommen hat?
Dann müssten alle solidarisch in einen Topf einzahlen und das ist unpopulär. Im Kern geht es um die Frage, was uns Pflege mit Würde – und da sind wir wieder bei Juchli – wert ist und was unsere Prioritäten sind. Wir sollten hier komplett umdenken!
Bei der Vergütung hat sich viel getan. Wie ist es um das Image von Pflegeberufen bestellt?
Der Ruf ist nicht schlecht. In der Corona-Zeit wurde den meisten wohl ziemlich deutlich, wie systemrelevant diese Arbeit ist. Es gibt viele starke Frauen in verantwortungsvollen Positionen, gleichzeitig auch immer mehr Männer. Trotzdem ist Pflege noch immer weiblich. Wir freuen uns, dass wir jedes Jahr rund acht bis zehn Azubis begrüßen dürfen. Auch auf dem zweiten Bildungsweg, also in der berufsbegleitenden Ausbildung, ist die Nachfrage gut. Aber insgesamt bleibt die Personalsituation schwierig.
In Zeiten des Fachkräftemangels konkurrieren wir mit anderen Branchen. Was ist das Besondere an unserer stationären und ambulanten Altenhilfe?
Kliniken können im Notfall auch mal eine Operation verschieben oder eine Station schließen. In unseren Altenpflegeheimen geht das nicht, die Menschen leben hier! Man kann da an Feiertagen nichts ausschalten oder stilllegen. Und für unsere Sozialstationen gilt: wenn wir nicht hinfahren, kommt niemand. Deshalb sind wir von Herzen dankbar für jede und jeden einzelnen im Team, der mit uns gemeinsam in der Pflege unterwegs ist und Verantwortung trägt – egal, ob als Pflege- oder Hilfskraft, als Hauswirtschafts- oder Betreuungskraft oder anderswo, ob im Haupt- oder Ehrenamt. Ihr Einsatz ist unglaublich wertvoll und wichtig!